Wie weit man gehen kann, weiß keiner: Russische Medien haben beständig mit der Frage zu kämpfen, wo der Bereich des Tolerierten endet und das Tabu beginnt. Das Stoppsignal kommt manchmal unvermittelt. Unmissverständlich ist es immer – jedenfalls für die Beteiligten. Das hat gerade erst eine der bedeutendsten und meistzitierten Websites im russischen Internet zu spüren bekommen, das Wirtschafts- und Investigativportal RBC.

Nach einer Reihe von Veröffentlichungen, die nach anderen Maßstäben durchaus preisverdächtig gewesen wären, die man aber im russischen Kontext kaum anders denn als tollkühn bezeichnen kann, stand in den Büros des Investors die Steuerfahndung vor der Tür. Das Portal selbst hatte einen Betrugsprozess am Hals, die dreiköpfige Chefredaktion musste gehen.

Dass juristische Mittel zweckentfremdet werden, um Druck auf unliebsame Medien auszuüben, hat in Russland schon seit den neunziger Jahren Tradition. Der Fall RBC ist jedoch besonders schmerzhaft für eine Medienlandschaft, in der die Stimmenvielfalt stetig bedroht ist und die weitgehend vom Staat beherrscht wird.

Wenig Platz für unabhängige Medien

Vor allem das Fernsehen, aus dem nach aktuellen Umfragen 85 Prozent der Menschen ihre Informationen beziehen, ist fest in staatlicher Hand. Inhaltlich folgen die Sender fast ausnahmslos dem Leitbild eines spezifisch russischen Patriotismus. Im Print- und Internetbereich hingegen konkurrieren staatliche, regierungsnahe und unabhängige Medien um die Leser – die Grenze zwischen den letzten beiden lässt sich nicht immer ganz leicht ziehen.

Dass der unabhängige Sektor überhaupt existiert, ist außerhalb Russlands nur wenig bekannt. Dabei spielt sich gerade dort ein Großteil des recherchebasierten, diskussionsorientierten Journalismus ab. Man findet klassische Publikationen wie die für ihre investigativen Recherchen bekannte Nowaja Gaseta, aber auch neuere Projekte wie das Kulturmagazin Colta oder das politisch und wirtschaftsthematisch orientierte Portal slon. In jüngster Zeit lässt sich ein Trend zu Bildungsportalen beobachten, die wie Arzamas vor allem kulturelle und historische Themen aufgreifen. Der Diskurs über soziale Fragen wird von takie dela angestoßen und immer wieder entstehen Nischenprojekte neu, wie das leicht anarchisch anmutende batenka oder der Blog noodleremover, der Fakes in der Mediensphäre entlarvt.

Es gibt also durchaus ein journalistisch vielfältiges Russland, allerdings erreichen die meisten dieser Projekte nur eine begrenzte Leserschaft. Die besteht vor allem aus den urbanen und sogenannten kreativen Schichten, dem allmächtigen Staatsfernsehen haben diese Medien kaum etwas entgegenzusetzen. Insofern ist – oder vielleicht muss man sagen: Insofern war RBC als echter big player mit seinem breiten, businessorientierten Profil eine klare Ausnahme.

Erfolgsgeschichte ohne Happy End

Die Medienholding RBC, gegründet bereits in den Neunzigern und über das Onlineangebot hinaus ausgestattet mit einer regelmäßigen Printpublikation und sogar einem eigenen Fernsehsender, wurde von einer neuen Chefredaktion erst 2013 aus einem mehrjährigen Dornröschenschlaf erweckt. Besitzer ist seit 2009 die Onexim-Gruppe von Michail Prochorow. Prochorow – zeitweise der reichste Mann Russlands und 2012 sogar Präsidentschaftskandidat – wollte sich mit der Kontrolle über RBC wohl ursprünglich einen größeren Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung verschaffen. Tatsächlich aber wurde das Medium in seinem Besitz zu einem Vorreiter des fundierten, eigenständig recherchierenden Journalismus. Wie so oft in Russland gibt es auch in diesem Fall kein klares Schwarz und Weiß.

RBC ist zwar ein Wirtschafts- und Finanzportal, es gelang der Redaktion aber, unter diesem Blickwinkel auch immer wieder gezielt gesellschaftlich brisante Themen aufzugreifen. Zu großem Aufruhr hatte bereits im Januar 2015 eine Veröffentlichung über das Projekt eines Forschungs- und Technologieparks geführt, der als ein russisches Silicon Valley der Moskauer Staatlichen Universität angegliedert werden soll. Die Direktorin des ausführenden Unternehmens stand zwar laut RBC nicht für ein Interview zur Verfügung, ihr Name wurde aber mehrfach im Text genannt: Katerina Tichonowa. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es sich bei ihr um die jüngere der beiden Töchter Wladimir Putins handelt – über die in der Öffentlichkeit seit jeher strengstes Stillschweigen bewahrt wird. Im Abstand jeweils einiger Monate folgten weitere aufwendig recherchierte Beiträge, etwa zur Finanzierung der Kriegseinsätze in Syrien, zu den von der russisch-orthodoxen Kirche generierte Geldströmen oder zum Cellisten Sergej Roldugin, einem persönlichen Freund Waldimir Putins, der in den Panama Papers als Inhaber mehrerer Offshore-Firmen figuriert. Die Rechnung kam wenig später – siehe oben.