Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. Weitere Artikel seiner Kolumne "Fischer im Recht" finden Sie hier – und auf seiner Website.

Liebe Leserinnen und Leser,

heute scheint mir ein kleiner Zwischenruf zum Thema "Sexmob" (Bild) dringend erforderlich. Das ist, wie uns mitgeteilt wird, ein nordafrikanisch oder sogar arabisch aussehendes Pack, das unsere Städte verunreinigt und unsere Frauen belästigt. Wir wollen jetzt einmal dahinstehen lassen, verehrte Kenner des Diercke Weltatlas und Freunde des Maghreb, wo Ihrer Ansicht nach die Grenze zwischen Arabien und Nordafrika verläuft. Köln, Frankfurt und Hamburg zählen aber, da haben Sie recht, allenfalls zum sekundären Siedlungsgebiet jener Stämme. Deutschland hat sich bereits mit seiner ganzen Geisteskraft daran gemacht, die Sache zu klären. Schon ist der Kölner Polizeipräsident im Orkus verschwunden. Da wird ein kleines Untersuchungsausschüsschen nicht mehr lange auf sich warten lassen. 2017 sind Landtagswahlen.

Analysen

Unser Herr Bundesjustizminister Heiko Maas hat darauf hingewiesen, es habe sich beim Phänomen Sexmob – oder, in seinen Worten, bei den "Horden" von Köln – um eine "neue Form organisierter Kriminalität" gehandelt. Da wir im Interesse des Koalitionsfriedens nicht hoffen wollen, dass der Minister eine Regierungspartei im Verdacht hat, an dieser Organisation beteiligt gewesen zu sein, darf man dies wohl als innovativen Beitrag zur Kriminologie verstehen. Bisher dachten wir, "Organisation" sei irgendetwas anderes als die zufällige Zusammenballung eines Haufens Besoffener, lassen uns allerdings gern belehren.

Wissenschaft, Kriminalbürokratie und Juristen rudern ein bisschen zurück: Es sei "denkbar", dass die am Hauptbahnhof Köln seit jeher tätigen organisierten Banden von Taschendieben sich am Silvesterabend auch irgendwie zwischen Hauptbahnhof und Dom befunden hätten. In der Tat, das wäre denkbar. Wäre ich Taschendieb von Beruf, ich wäre jedenfalls dort gewesen: Mehr unbeschwerte Opfer auf einem Haufen gibt's sonst nur am Rosenmontag.

Bleibt die Frage: Wer sind die organisierten Taschendiebe, die dort seit Langem tätig sind? Warum erfahren wir erst jetzt von ihnen? Lebenspraxis: Der Kolumnist ging vor Silvester 2015 samt Rollkoffer abends um 21 Uhr vom Hauptbahnhof über die Domplatte. Gerade noch rettete er sich in den Hoteleingang vor zwei Verfolgern, die man als "aggressive Bettler" oder "unorganisierte Rauschgiftsüchtige" bezeichnen könnte. Die Herren waren eindeutig weder arabisch noch nordafrikanisch, sondern einheimische Freunde des Heroins. Das war das dritte Mal in zwei Jahren. Kein Innenminister weit und breit.

Unsere Bundeskanzlerin hat am 7. Januar gesagt, sie überdenke die Ausweisungspraxis. Die Süddeutsche schreibt, Frau Merkel wolle uns damit sagen: Ich kann auch anders! Und ZEIT ONLINE fügt hinzu, damit stehe eine "Zeitenwende" bevor. Da fürchtet sich der fremde Mob, wenn die Bundeskanzlerin ihre Praxis überdenkt. Von ferne winkt das Grundgesetz: Leben wir, ohne es bemerkt zu haben, inzwischen in einer Präsidialdemokratie?

Nun gut, die Sache ist noch nicht zu Ende gedacht. Zum Beweis vorerst, live aus dem Denkprozess, ein Kanzler-Video: "Es ist richtig und gut, dass es jetzt sehr, sehr viele Anzeigen gibt", sagt unsere Bundeskanzlerin. Ein schöner Satz, der freilich zwei Auslegungsvarianten zulässt. Niemand wird der Sprecherin ernsthaft unterstellen, sie freue sich darüber, dass es sehr, sehr viele Straftaten gegeben habe. Deshalb bleibt nur diese Variante: Es gab sehr, sehr viele Straftaten, und richtig und gut ist, dass diese nun angezeigt werden. Ich hörte allerdings die Kanzlerin noch nie sagen, es sei wichtig und gut, dass es sehr, sehr viele Anzeigen wegen Tankstellenüberfällen gibt.

Woher weiß die Bundeskanzlerin, dass es sehr, sehr viele Straftaten gegeben hat? Ich an ihrer Stelle würde sagen: Das weiß ich aus den sehr, sehr vielen Strafanzeigen. So schließt sich der Kreis der Mob-Bekämpfung, freilich auch der sinnlosen Beweiswürdigung. Dass man das "richtig und gut" findet, ist entweder ziemlich crazy oder eine üble Verdrehung. Der einzig rationale Blickwinkel, aus dem die vielen Anzeigen "richtig und gut" sind, ist das Interesse der CDU/CSU an einer Zeitenwende in der Ausländerpolitik.