Nach den schweren Luftangriffen auf die syrische Stadt Aleppo am Wochenende haben sich Russland und die westlichen Staaten im UN-Sicherheitsrat gegenseitig die Schuld für die Eskalation der Gewalt zugewiesen. Die US-amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power bezichtigte die Regierung in Moskau, sie unterstütze in Syrien "ein mörderisches Regime" und missbrauche das Privileg, als ständiges Sicherheitsratsmitglied über ein Vetorecht zu verfügen. Russland betreibe in Aleppo "keinen Antiterrorkampf, sondern Barbarei".

Der britische Außenminister Boris Johnson warf Russland vor, den Krieg in die Länge zu ziehen und möglicherweise Schuld an Kriegsverbrechen zu haben. "Glaubt Russland wirklich, dass es Vertrauen gewinnen kann, wenn es auf der einen Seite über Waffenruhe verhandelt und auf der anderen das Regime unterstützt, das Aleppo bombardiert?", fragte wiederum Frankreichs UN-Botschafter François Delattre und warf sowohl Moskau als auch Damaskus vor, vor allem in der einstigen nordsyrischen Wirtschaftsmetropole Aleppo "Kriegsverbrechen" zu begehen.

Aleppo ist die letzte verbliebene Großstadt in Syrien, in der Rebellen noch größere Gebiete kontrollieren.  Unterstützt von der eigenen Luftwaffe und russischen Kampfjets eroberten syrische Bodentruppen am Wochenende zunächst die Palästinenser-Siedlung Handarat im Norden der Stadt. In der Nacht zum Sonntag vertrieben die Rebellen die Soldaten jedoch wieder aus dem strategisch wichtigen Ort. Dieser und der von den Aufständischen gehaltene Osten Aleppos wurden auch am Sonntag massiv von Kampfflugzeugen bombardiert.

"Sie vernichten Menschen in letzten Zufluchtsorten"

Helfer und oppositionsnahe Gruppen sprachen von über hundert Toten allein in den vergangenen Tagen. Die Krankenhäuser der Stadt sind überlastet, die Nachrichtenagwentur AP zitiert einen Mediziner mit den Worten: "Ich habe noch nie so viele Menschen an einem Ort sterben sehen." Mindestens 250.000 Menschen harren im belagerten Ostteil der Stadt trotz widrigster Lebensumstände aus. In ganz Aleppo sollen zwei Millionen Menschen von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten sein.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon wählte ebenfalls das Wort "Barbarei", als er über die Ereignisse in Aleppo sprach, wo zuletzt auch sogenannte bunkerbrechende Bomben zum Einsatz gekommen waren. Diese Bomben lassen mehrstöckige Gebäude einfach zusammenfallen und zerstören selbst Keller. Ban sagte: "Wir dürfen nicht vergessen, dass Krankenhäuser und Schulen wegen der Kämpfe nur noch im Keller arbeiten können. Diese Bomben sprengen nicht Bunker, sie vernichten Menschen, die nach dem letzten noch verbliebenen Zufluchtsort suchen." Er rief die Weltmächte auf, "mehr zu unternehmen, um dem Albtraum ein Ende zu machen". Das internationale Recht lasse keine Zweifel zu, sagte Ban: "Der systematische Einsatz von weitreichenden Waffen in dicht besiedelten Gebieten ist ein Kriegsverbrechen."

Der syrische Bürgerkrieg tobt inzwischen fünfeinhalb Jahre. Hunderttausende Menschen wurden seitdem getötet, elf Millionen sind auf der Flucht. Vor rund zwei Wochen gab es die vorerst letzte ernstzunehmende internationale Initiative, um den Konflikt zu beenden. Die von den USA zusammen mit Russland vereinbarte Waffenruhe zwischen Rebellen und Regierungstruppen hielt allerdings nur eine Woche. Die USA hatten nach eigenen Angaben zunächst versehentlich syrische Regierungssoldaten bombardiert. Es folgte ein Angriff auf einen UN-Hilfskonvoi, für den Syrien und Russland aber jegliche Verantwortung zurückweisen. Seitdem sind die Kämpfe noch stärker als zuvor, besonders Aleppo ist heftig umkämpft.

Appell an USA und Russland, Vorwürfe aus Moskau

Der UN-Sonderbeauftragte für den Syrien-Konflikt, Staffan de Mistura, appellierte erneut an die USA und Russland, das gebrochene Waffenstillstandsabkommen zu retten. Er sehe noch einen Funken Hoffnung zur Rückkehr zu der Vereinbarung, sagte de Mistura vor dem Sicherheitsrat. "Als naiver UN-Vertreter hoffe ich, daran glauben zu dürfen, dass Ihre Zusagen ernst gemeint waren", sagte de Mistura an die Regierungen in Moskau und Washington gerichtet. Die Verantwortlichen dort müssten "eine Extrameile gehen".

Wie verhärtet die Fronten sind, zeigte sich indes beim Auftritt des syrischen UN-Botschafters Baschar al-Dschaafari. Als er aufgerufen wurde, verließen seine amerikanischen, britischen und französischen Kollegen aus Protest den Raum. Die drei westlichen Staaten waren es, die die Sitzung angesetzt hatten und die sich ihrerseits Vorwürfe anhören mussten. Russlands UN-Botschafter Witali Tschurkin beschuldigte die US-Regierung etwa "nicht ausreichend Einfluss auf die mit ihnen verbündeten Gruppen auszuüben" und damit seine Verpflichtungen für die Waffenruhe nicht zu erfüllen. "Frieden zu stiften ist jetzt eine fast unmögliche Aufgabe", sagte er.

Erste Hilfsgüter nach einem halben Jahr

Unterdessen haben erstmals nach fast sechs Monaten vier eingeschlossene Städte Hilfslieferungen erhalten. Dabei handele es sich um Madaja und Sabdani in der Nähe der Hauptstadt Damaskus sowie um Fua und Kefraja in der nordwestlichen Provinz Idlib, teilte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) mit. Insgesamt 70 Lastwagen hätten Hilfsgüter geliefert. Madaja mit einer Bevölkerung von rund 40.000 Menschen ist seit einem halben Jahr von Verbündeten der syrischen Armee eingekesselt. In Sabdani leben noch 1.000 Menschen. Kefraja und Fua mit rund 20.000 Einwohnern werden seit April 2015 von Aufständischen belagert.

Auch der britische Außenminister Boris Johnson hatte zuvor in einem BBC-Interview gesagt, Russland habe in Syrien möglicherweise ein Kriegsverbrechen begangen. Es müsse geprüft werden, ob der jüngste Angriff auf einen Hilfskonvoi bei Aleppo mit dem Wissen ausgeführt wurde, dass es sich um ein ziviles Ziel handele. Russland mache sich schuldig, "den Krieg zu verlängern, ihn viel grausamer zu machen". Bei der Bombardierung von UN-Lastwagen bei Aleppo wurden am Montag mehr als 20 Menschen getötet. Russland und Syrien bestreiten, für den Angriff verantwortlich zu sein.