Im September vor zwei Jahren feierte die NPD eine Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts Kassel: Die Richter hatten die Stadtverwaltung Bad Hersfeld angewiesen, eine Reihe rassistischer Wahlplakate der Partei unverzüglich wieder aufzuhängen. Zuvor waren diese von Mitarbeitern des Bauhofs auf Anordnung des Bürgermeisters entfernt worden, weil darauf Slogans standen wie "Geld für die Oma statt für Sinti und Roma", "Maria statt Scharia" und "Gas geben" – ein unverhohlener Fingerzeig Richtung Auschwitz.

Die Richter befanden, dass die Partei "nicht eindeutig zu Willkürmaßnahmen gegen Roma und Sinti" aufrufe und daher durch die Meinungsfreiheit geschützt sei. Auch andere Kommunen unterlagen damals in ähnlichen Fällen, darunter das Berliner Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Die Urteile empörten viele NPD-Gegner. Deckt das Recht auf Meinungsfreiheit auch Schmähungen und Kränkungen? Und lässt sich das mit Menschenrechtskonventionen vereinbaren? 

Bundesjustizminister Heiko Maas wollte Klarheit und beauftragte die Rechtsprofessorin Stefanie Schmahl von der Universität Würzburg, zu untersuchen, inwieweit Richter bei solchen Urteilen eigentlich völkerrechtliche garantierte Menschenrechte berücksichtigen müssen. Ein heikles Unterfangen, darf ein Justizminister doch keineswegs den Eindruck erwecken, den Richtern Vorgaben für die Rechtsprechung zu machen. Entsprechend zurückhaltend erläutert Maas seine Motivation: Der Aspekt der Menschenrechte "ist in der Fachliteratur bislang nicht näher beleuchtet worden", sagte er ZEIT ONLINE.

Seit Kurzem liegt das Gutachten vor, das durchaus als Hilfestellung für Verwaltungsrichter betrachtet werden kann. Im Kern geht es darin um eine Abwägung zwischen Grundrechten. Juristin Schmahl analysierte zahlreiche Gesetze und menschenrechtlichen Vereinbarungen, um die Balance zwischen Meinungsfreiheit und dem Schutz von Respekt, Achtung, Würde und vor Diskriminierung neu zu bestimmen. Zwar müssten in pluralistischen Gesellschaften Einzelne verbale Zumutungen und Kränkungen durch andere aushalten, schreibt sie in ihrem 108 Seiten langen Papier. Meinungsäußerungen mit dem Ziel, Menschen wegen ihrer ethnischen Abstammung herabzusetzen seinen dagegen "nicht hinnehmbar". Bei Schmähungen wie auf den Plakaten handele es sich "um einen Angriff auf die Menschenwürde, die sich jeder Abwägung entzieht".

Die Richter hatten bisher anhand des Strafrechts entschieden und die Plakate im Hinblick auf mögliche Volksverhetzung geprüft. Laut der Würzburger Juristin wurde jedoch von den Richtern vernachlässigt, welche Bedeutung in solchen Fällen menschenrechtlichen Vereinbarungen zukommt; darunter die Europäische Menschenrechtskonvention, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte ICCPR oder das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung von Rassendiskriminierung ICERD. Schmahl verweist unter anderem darauf,

  • dass das Verbot systematischer Rassendiskriminierung zu den "unbestrittenen Normen" des unveränderbaren Völkerrechts gehört. Das Verbot sei nicht nur in der EU-Grundrechtscharta, sondern in vielen Erlassen der Europäischen Union und diversen Menschenrechtsverträgen verankert, darunter in der Antirassismuskonvention ICERD.
  • dass der ICCPR-Pakt über bürgerliche und politische Rechte nach Auslegung des UN-Menschenrechtsausschusses die Meinungsfreiheit "explizit herausstellt". Rassenhetze sei damit allerdings nicht vereinbar.
  • dass der Europäische Menschenrechtsgerichtshof bei rassistischen und xenophoben Äußerungen "einen eher restriktiven Kurs zu Lasten der Meinungsfreiheit verfolgt". Er habe in diversen Urteilen verdeutlicht, dass Toleranz und gegenseitiger Respekt zur Basis unserer Gesellschaft gehören.
  • dass etwa das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über einen rechten Aufmarsch im bayerischen Wunsiedel 2009 dem Schutz von NS-Opfern ein höheres Gewicht zuerkannte, als der Meinungsfreiheit.

Ausgehend davon sollten mit ähnlichen Fällen befasste Richter künftig nicht nur das Strafgesetzbuch, sondern auch diese menschenrechtlichen Normen bei ihren Urteilen berücksichtigen. Die Autorin des Gutachtens argumentiert, menschenrechtliche Verträge, denen die Bundesrepublik beigetreten ist, seien durch Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 59, Abs. 2) Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Viele Bestimmungen der Abkommen seien so "hinreichend genau und bestimmt formuliert", sodass sie unmittelbar gesetzlich anwendbar sind.   

Gutachten an Landesminister verschickt

Doch nicht nur die Menschenrechte könnten die künftige Rechtsprechung verändern. Sie argumentiert, die NPD-Plakate würden "ein Klima der Ausgrenzung bestimmter Personengruppen" schaffen. Ein solches Meinungsklima zerstöre den sozialen Zusammenhalt. Minderheiten auf diese Weise verächtlich zu machen, gefährde das friedliche Miteinander "in einer Intensität, die eine Störung der öffentlichen Ordnung nahelegt".

Nach Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs ist fremdenfeindliche Agitation nicht allein strafbar, wenn sie "subjektiv beunruhigend" wirkt oder zu einer "Vergiftung des geistigen Klimas" führt. Nur, wenn parallel der öffentliche Friede gestört ist, kann ein Gericht Täter wegen fremdenfeindlicher Parolen bestrafen. Die Juristin leitet in ihrem Gutachten her, für die Anwendung des Strafrechts reiche aus, dass die Äußerungen zu Ausgrenzung aus der Gesellschaft führten und ein feindliches Gefühl hervorriefen. Ein Aufruf zur Gewalt oder eine Störung des öffentlichen Friedens sei dazu nicht vonnöten. Das alles könnte künftigen Streit über Wahlplakate der NPD anders enden lassen. 

Maas versandte das Gutachten inzwischen an die Justizministerkonferenz und wies die Landesinnenminister darauf hin. Er hofft, dass sich die Argumente der Würzburger Juristin bis zu den Richtern verfestigen.

Gutachten dient als Argument bei den UN

Im Frühjahr dieses Jahres musste die Bundesregierung turnusgemäß vor den Vereinten Nationen in Genf nachweisen, ob Deutschland die UN-Antirassismuskonvention einhält. In der mehrtägigen Anhörung nannten die anwesenden Ministeriumsvertreter auch das geplante Gutachten zur Strafbarkeit rassistischer Plakat-Slogans als ein Zeichen ihrer Bemühungen, Rassenhetze keine Chance zu lassen. Nun müssen es nur noch die Richter lesen – und bei ihren Urteilen beherzigen.

Das Gutachten sei "ein wichtiger Debattenbeitrag, der umfassende rechtliche Ausführungen erhält, die bei der Beurteilung von fremdenfeindlichen Wahlplakaten mit heran gezogen werden können", sagte der Justizminister.

Bis sich die Rechtssprechung ändert, können es Bürgermeister mit einem Kniff versuchen, den ein Ortsvorsteher aus der Nähe von Fulda anwendete: Er ließ NPD-Plakate mit dem simplen Verweis auf die Windlast abhängen. Denn die meist weiter oben angebrachten NPD-Werbeschilder üben eine nicht geringe Kraft auf die Laternenmasten aus, wenn der Wind bläst. Das gefährde deren Standsicherheit.