Weil ihre Mutter Jüdin ist, führen Marione Ingram und ihre Schwestern Helga und Rena in Hamburg unter den Nazis ein Leben in Ausgrenzung und der ständigen Bedrohung mit dem Tod. Während der Hamburger Bombennächte im Juli 1943 irrt die siebenjährige Marione an der Hand ihrer Mutter und eingehüllt in eine feuchte Wolldecke durch brennende Straßen. Achtzehn Monate lang verstecken sie sich im Hamburger Vorort Rahlstedt in einer Hütte und in einem Erdloch.

Nach der Befreiung lebt Marione eine Zeit lang in einem Familienanwesen des Bankiers Eric Warburg, das dieser am Blankeneser Elbhang für jüdische Kinder und Jugendliche eingerichtet hatte, die den Holocaust überlebt haben. Hier, auf dem Kösterberg, erlebt Marione Ingram zum ersten Mal, dass Lehrer und Mitschüler sie mit Respekt behandeln.

Mit siebzehn Jahren wandert sie in die USA aus, heiratet und bekommt einen Sohn. Ihre Erinnerungen hat die 80-jährige Künstlerin, Bürgerrechtsaktivistin und Autorin im Buch Kriegskind versammelt, das diesen Monat erschienen ist. Sie lebt heute in Washington D. C., in der Nähe ihrer beiden Enkelkinder. Zurzeit ist Marione Ingram zusammen mit ihrem Mann Daniel in Hamburg auf Lesetour.

ZEIT ONLINE: Marione Ingram, Sie sind im November 1935 im Israelitischen Krankenhaus geboren. Wann haben Sie die antisemitische Bedrohung durch den nationalsozialistischen Rassenwahn erstmals gespürt?

Marione Ingram: Das ging ganz schnell. Schon sehr früh verlangten mein Vater und meine Mutter, dass ich anderen nichts über das, was ich in der Wohnung an Gesprächen mitbekomme, erzähle. "Du darfst auch nicht sagen, wer zu Besuch kommt", hieß es. Wenn ich draußen angesprochen wurde, musste ich so tun, als kapierte ich nichts oder könne nicht richtig sprechen. Aber ich habe zunächst nicht verstanden, warum diese Bedrohung existierte.

ZEIT ONLINE: Spielten Sie mit den Kindern in ihrem Haus in der Hasselbrookstraße?

Ingram: Ja, aber eines Tages beschimpfte mich meine Freundin Monika, die ein oder zwei Etagen unter uns wohnte, und schrie, dass ich "durch den Schornstein gejagt" werde. Sie wollte nicht mehr mit mir spielen und spuckte mich an. Dann bin ich heulend zu meiner Mutter gerannt und haben sie gefragt: "Was ist das, Judenschwein?" Sie hat versucht zu erklären, dass sie und ihre Familie Juden sind, dass sie verfolgt werden, dass ihr Bruder, ihre Eltern und andere Verwandte nach Minsk deportiert worden waren. Von der jüdischen Seite meiner Familie lebte nur noch meine Mutter und das nur, weil sie mit meinem Vater, der kein Jude war, verheiratet war. Zumindest bis 1943 wurden wir verschont.

ZEIT ONLINE: Was hat die Abwertung und Angst mit Ihnen gemacht?

Die Künstlerin und Bürgerrechtlerin Marione Ingram, 80 Jahre alt, lebt heute in Washington D. C. und hat gerade ein Buch über ihre Kindheit in Hamburg verfasst. © Anke Schwarzer

Ingram: Die ersten zehn Jahre meines Lebens habe ich mich immer gefragt, ob ich am nächsten Tag noch am Leben sein werde. Ich war verzweifelt und wusste nicht, warum niemand sagte "Jetzt ist Schluss!", warum keiner dagegen kämpfte und warum sie uns überhaupt umbringen wollten. Aber das war mein Leben und ich kannte kein anderes. Ich wusste, irgendwann werden sie meine Mutter abholen. So wie meine Großmutter Rosa Singer, einen Tag vor meinem sechsten Geburtstag.

Ich kann mich noch sehr gut an die Gesichter und Uniformen der riesigen Männer erinnern. Ich wusste damals zwar noch nicht, was die Nazis genau machten, ich wusste nur, dass sie die Leute wegschleppen. Die Angst war enorm. Ständig klebte ich an meiner Mutter und musste ich mich vergewissern, dass sie noch da war.

ZEIT ONLINE: Was geschah im Sommer 1943 genau?

Ingram: Meine Mutter hatte gerade den Befehl zur Deportation erhalten und sollte mit ihren Kindern zur Moorweide am Dammtorbahnhof kommen, als es Leuchtbomben regnete, die langsam über die Alster hinabsanken. Flakbatterien brüllten, Sirenen heulten. Zehn Tage und Nächte lang explodierten unzählige Brandbomben. Ich bin Pazifistin – aber die Bombenangriffe haben unser Leben gerettet. Und ironischerweise hat uns der Hass gegen die Juden vor dem Hitzetod bewahrt.

ZEIT ONLINE: Wie das?

Ingram: Monikas Vater, der Blockwart Wiedermann, und die anderen Nachbarn hatten uns aus dem Luftschutzkeller geworfen und auch in einer nahegelegenen Kirche durften wir nicht bleiben, weil wir Juden waren. Während die anderen in der Gluthitze der Bunker gebacken wurden, irrten meine Mutter und ich durch die brennenden Straßen. Der Feuersturm tobte und mit den Flammen flogen auch Splitter, Trümmer und Äste durch die Luft.

Es lagen verbrannte Körper in bizarren Formen herum, die aussahen wie Holz. Ich sah wie ein Junge in einer Hitlerjugend-Uniform durch den geschmolzenen Asphalt watete. Am Eilbekkanal versuchten Menschen den Phosphorfraß an Fleisch und Knochen mit Wasser zu stoppen. Sie schrien um ihr Leben. In einem Bombenkrater fanden wir für eine Weile Schutz. Wie bei jedem Alarm hatte meine Mutter zu Hause die Wanne mit Wasser gefüllt und darin zwei Wolldecken eingetaucht. In die waren wir nun eingehüllt.