Die türkische Regierungspartei AKP ist populär in Viranşehir, einer Kleinstadt an der syrischen Grenze, aber nicht so beliebt wie die prokurdische Oppositionspartei HDP. In den letzten Wahlen im November 2015 gewann die HDP dort mehr als 50 Prozent aller Stimmen.

Es war also zu erwarten, dass am Sonntag etwa die Hälfte Viranşehirs gegen Recep Tayyip Erdoğans langerwünschte Verfassungsreform stimmen würde. Schließlich wehren sich die HDP und ihre Wähler schon seit Jahren lautstark gegen die Einrichtung eines Präsidialsystems. 

Doch auch in Viranşehir gewann das Ja-Lager. 46.663 Stimmen kamen für die Änderungen zusammen, 33.261 Wähler votierten dagegen. Ein plötzlicher Sinneswandel? Nein, sagt Ridvan Yavuz, der Wahlbeauftragte der HDP, sondern möglicher Betrug. In 60 ländlichen Wahlkreisen des Distrikts habe es 13.067 Stimmen für Ja gegeben — und nur 58 Stimmen für Nein, sagte Yavuz am Montagabend türkischen Medien. Die Wahlniederschriften dieser 60 Urnen seien von derselben Person unterzeichnet worden. 

Das seltsame Ergebnis in Viranşehir ist nur eine von vielen Ungereimtheiten, die laut Oppositionspolitikern auf Wahlbetrug hindeuten. Präsident Erdoğan mag endlich sein Ziel erreicht haben — eine knappe Mehrheit von 51,4 Prozent stimmte dafür, mehr Macht in seine Hände zu legen — doch viele Türken wollen seinen Wahlsieg nicht akzeptieren. Die größte Oppositionspartei CHP fordert die Annullierung des Referendums.

Zwar verkündete die türkische Wahlkommission, die Ja-Stimmen seien in der Mehrheit gewesen. Doch das Gremium selbst steht in der Kritik. Seine Entscheidung, während der Abstimmung am Sonntag die Regeln zu ändern und auch Stimmzettel und Umschläge ohne offizielles Siegel gelten zu lassen, warf besonders viele Fragen auf. Das Siegel stellt sicher, dass keine gefälschten Wahlunterlagen verwendet werden können. 

Die Rechtslage sei "kristallklar", sagt Ezgi Basaran, eine türkische Investigativjournalistin. "Es gibt keinen Raum für Diskussion. Zuvor nicht authentifizierte Stimmzettel sind nicht gültig." Auch internationale Wahlbeobachter kritisierten die Entscheidung. Die Wahlkommission habe gegen das Gesetz verstoßen, lautet das Fazit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in einem vorläufigen Bericht über das Referendum. 

Die OSZE-Beobachtermission bemängelte zudem die ungleichen Bedingungen während des Wahlkampfs. Gegner der Reformvorschläge seien bei ihrer Kampagne wiederholt auf Hindernisse gestoßen, während das Ja-Lager die Berichterstattung dominiert und für den Wahlkampf gelegentlich auf staatliche Ressourcen zurückgegriffen habe. Die Türkei habe internationale Standards für eine faire, demokratische Wahl nicht erfüllt, kommentierte die OSZE.