Auf den ersten Blick passt das eigentlich wunderbar, die Alternative für Deutschland und Nordrhein-Westfalen. Zum Beispiel an diesem Freitagnachmittag in der Fußgängerzone von Gelsenkirchen-Buer. Die Arbeitslosenquote liegt in der Stadt bei 11,8 Prozent, und direkt neben der Bühne, die die AfD hier aufgebaut hat, steht ein großes Kaufhausgebäude leer. Nein, die Gelsenkirchener würden selbst nicht behaupten, das es ihrer Stadt besonders gut gehe. Vielleicht also der perfekte Ort für eine Partei, die gerne klagt, wie schlecht alles sei.

Guido Reil tritt auf. Ein Mann in Jeans und einer blauen, parteifarbenen Camp-David-Weste. Reil kommt aus Gelsenkirchen, er hat in einer Zeche hier gearbeitet und war lange bei der SPD. "Mein Lieblingsthema", sagt er, "ist ja die soziale Gerechtigkeit." Er klagt über Leih- und Zeitarbeit ("moderne Sklaverei, nix anderes ist das!"), über die verschwundene Industrie und gebrochene Versprechen ("der Strukturwandel hat doch nicht funktioniert, nie!") und darüber, dass nur mit Jobs auch die Integration funktionieren könne ("So war das nämlich 150 Jahre hier"). Das Publikum, wie meist bei der AfD eher alt und männlich, klatscht. "Genau so ist es!" rufen einige immer wieder, und es ist an diesem Ort schwerer als anderswo, zu widersprechen.

Warum aber liegt dann die AfD in Nordrhein-Westfalen kurz vor der Landtagswahl am Sonntag in den Umfragen nur zwischen sechs und neun Prozent? Warum erfährt die Partei hier, wo die Realität vermeintlich so nah an dem ist, was sie beklagt, nicht mehr Zustimmung?

Eine erste Antwort wäre, dass es einfacher ist, hemmungslos aus der Ferne zu schimpfen. Im Osten werden Orte wie Gelsenkirchen oder Duisburg-Marxloh als schlimmste Ecken Deutschlands beraunt. Auf sächsischen und thüringischen Marktplätzen sammelt die AfD Stimmen mit der Warnung, es könne bald überall so werden wie im Ruhrgebiet.

Aber vielleicht finden die Menschen hier ihre Heimat nicht ausschließlich schlimm. Die 150-jährige Erfahrung mit Zuwanderern, von der Reil spricht, führt beispielsweise zu einer gewissen Integrationsroutine. Anderswo mag man das als Selbstaufgabe verteufeln. Aber für viele hier ist das normale Gelassenheit.

Abwehrkräfte gegen das apokalyptische Szenario

Nordrhein-Westfalen hat sich, vor allem in den vielen und großen Städten im Ruhrgebiet und im Rheinland, eine Offenheit und ein Miteinander antrainieren können, die nun als Abwehrkräfte gegen die apokalyptischen Endkampfszenarien der AfD dienen. Beim Auftritt in Gelsenkirchen-Buer nehmen Gegendemonstranten die AfD in die Zange. Von beiden Seiten ist die Kundgebung eingekeilt von Hunderten Menschen, die mit Transparenten demonstrieren und so laut und durchgehend pfeifen und skandieren, dass die AfD-Redner ihrerseits ins Mikro rufen müssen, um überhaupt noch gehört zu werden.

Auch das heizt die Stimmung so an, dass sich der Ex-Sozialdemokrat Guido Reil bald in eine Wutrede auf alle anderen Politiker und auf die Kanzlerin insbesondere hineinsteigert. "In Japan, wenn da ein Politiker Scheiße baut, da geht er vor laufenden Kameras auf die Knie, heult Rotz und Wasser und entschuldigt sich. Und genau das erwarte ich von Angela Merkel: auf die Knie und Rotz und Wasser heulen!" Das Publikum johlt, der Volkssouverän ergötzt sich an Erniedrigungsfantasien.

Eigentlich sollten auch Marcus Pretzell und Frauke Petry in Gelsenkirchen auftreten. Die politisch angeschlagene Bundesvorsitzende der Partei und ihr Mann, der Landesvorsitzende und Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen. Aber dann verkündet der Moderator nach Reils Rede, dass die beiden doch nicht kommen. Vermeintlich aus Sicherheitsgründen, wegen der Gegendemonstranten also. Die Enttäuschung darüber hält sich im Publikum in Grenzen.