Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. Weitere Artikel seiner Kolumne "Fischer im Recht" finden Sie hier – und auf seiner Website.

Zunächst aktuelle Meldungen

Erstens: Vom Gutachterausschuss des Tugend-Vereins SMRZ (siehe Kolumne vom 16. August) wurde belobigt die Stuttgarter Zeitung (online) für den Artikel Prostituierte in Bordell vergewaltigt vom 15. August: "Der Unbekannte hatte mit der 20-Jährigen sexuelle Handlungen vereinbart und auch dafür bezahlt. Beim Geschlechtsverkehr selbst (?) führte er dann aber mit seinen (?) Fingern Sexpraktiken durch, für die er nicht bezahlt hatte. Als die 20-Jährige den Mann aufforderte, das Zimmer zu verlassen, … flüchtete er." Damit der ahnungslose Leser sich ein lebendiges Bild des Verbrechens machen kann, ist ein Farbfoto des üppigen Hinterns (Obacht, FAZ!) einer Frau in Korsage beigefügt. In der Tatschilderung ist zwar eine Vergewaltigung nicht erkennbar. Das ist aber egal, denn der Täter, von was auch immer, ist schon so gut wie gefasst: "Er könnte eventuell russischstämmig oder osteuropäischer Herkunft sein." Das nennen wir eine gelungene Kriminalberichterstattung! Einen kleinen Punkteabzug gab es allerdings für die Verwendung des Wortes "Sexpraktiken" statt des vorgeschriebenen Begriffs "Liebesspiel". 

Zweitens: Den Norbert-Grupe-Preis für das nicht geführte Interview des Monats erhält die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der der kleine Bruder Christoph Harting nicht erklärt hat, wie es sich anfühlt, nicht Robert zu heißen. Anstatt, wie es sich gehört hätte, nach dem Gewinn einer Goldmedaille zur Nationalhymne zu weinen, tanzte er. Hierdurch entlockte er der FAZ am 13. August (!) zwei emissiones linguae zum Zusammenhang zwischen sexueller Raserei und Schmerz: "Der kleine Harting erregt mit seinem Verhalten." Und, im selben Stück: "Seine Leidstung war beredt". Medienexperten vermuten, das Zentralorgan des Missmutigen Dadaismus (Leitspruch: "Vorwärts oder rückwärts – Hauptsache, es bewegt sich nichts!") versuche, im Überlebenskampf durch sexualisierte Sprache zu punkten. 

Drittens: Der Preisträger des Hörfunk-Preises Blind? – kein Problem! ist diese Woche kein geringerer als Spiegel.de. Geehrt wird er für die aufrüttelnde Audio-Reportage: So klingt der Krieg in Syrien! (Online seit 14. August). Der Bundesverband der Hersteller von Splitterhandgranaten hat sie als "Bombenhit des Jahres" eingereicht und nachdrücklich eine Fortsetzung des Formats angeregt. Folge zwei: So klingt der Krieg im Sudan; Folge drei: So klingt der Sieg in Afghanistan; Folge vier: So klingt die Waffenruhe in der Ostukraine; Folge fünf: So klingt Aleppo bei Nacht.

Recht und Unrecht

Rechtsbeugung ist, glaubt man den Foren, ein Massendelikt. Diese Ansicht ist besonders da verbreitet, wo Menschen einen Prozess verloren oder auf sonstige Weise vom Gericht nicht das bekommen haben, was sie ersehnten. Eine vom Kolumnisten erfundene Statistik besagt, dass unter den Prozessgewinnern 90 Prozent die Entscheidung für beispielhaft rechtstreu halten und 20 Prozent der Prozessverlierer ihnen beipflichten. 30 Prozent der Prozessverlierer hingegen halten das Urteil für grob fehlerhaft, 40 Prozent für glatt strafbar.

Leser von Fischer im Recht wissen, dass auch zum Forum dieser Kolumne so manche Person gehört, die sich selbst zu den Opfern von Rechtsbeugung zählt. Zahlreiche weitere Betroffene schreiben oder mailen mir wöchentlich – mehr oder minder freundlich. Andere haben alle Hoffnung fahren lassen.

Wie viele darunter sind, deren Motive allein im irrationalen Bereich zu verorten sind, weiß man nicht. Beim Revisionsgericht, wo nur "Beachtung findet", was ein Rechtsanwalt auf seine Kappe genommen hat (Paragraf 345 Abs. 2 StPO), ist man in der Routine der Geschäfte geneigt, jeden persönlichen Brief eines Revisionsführers aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) für den Ausdruck von Querulantentum zu halten. Vom Zivilrecht will ich schweigen, da dort jede Äußerung leibhaftiger Menschen den ruhigen Gang der Relation eigentlich nur stört.  

Es bleiben aber auch nach Abzug der mit hoher Drehzahl leerdrehenden Leidenden viele Fälle, Erzählungen, Erfahrungen und Enttäuschungen übrig, die nicht einfach in den Korb "hatten wir schon", "unstatthaft" oder "querulatorisch" gewischt werden können. Ich kenne kaum einen Kollegen, der nicht glaubhaft von mindestens einem eklatant falsch entschiedenen Rechtsfall aus seinem eigenen oder dem Rechtsleben in seinem Umfeld berichten kann.

Ergo: Es gibt diese Fälle. Das zu bestreiten und/oder auf diese Feststellung sogleich in pikierte Abwehrhaltung zu verfallen, wäre naiv und unglaubhaft.

Damit sind die wichtigen Fragen aber nicht beantwortet: 

  •     Was sind überhaupt Fehlentscheidungen?
  •     Was ist Rechtsbeugung?
  •     Wer ist verantwortlich?

Hieraus ergibt sich wie immer eine Vielzahl weiterer Fragen, die – auch wie immer – an die Grundlagen unserer Rechtskultur reichen.